Sachverhalt:
Der Fachdienst 35
Frühe Hilfen und Inklusion/ Jugendamt im Fachbereich 3 Soziales, Jugend,
Gesundheit wurde am 01.05.2021 aufgrund des Inkrafttretens des Kinder- und
Jugendstärkungsgesetzes im Juni 2021 und den damit verbundenen Neuerungen im
Kinder- und Jugendhilferecht (Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (III) –
Kinder- und Jugendhilfe) neu gebildet. Die Realisierung der Neubildung
erforderte räumliche, sachliche, haushaltsrechtliche und personelle
Umstrukturierungen in mehreren Fachdiensten des Fachbereiches. So mussten Aufgaben
aus verschiedenen Fachdiensten in den Fachdienst 35 transferiert und zu
Aufgabengebieten geordnet werden, Mitarbeiter entsprechend umgesetzt werden,
Fallübergaben erfolgen, Softwarelizenzen übertragen werden, Haushaltsstellen
und Anordnungsrechte neu strukturiert werden. Des Weiteren waren die
vorangegangen Jahre 2020 und 2021 im Fallaufkommen und -management von der
Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen geprägt. Aus diesen
Gründen war eine Planung des neuen Fachdienstes für das Jahr 2022 sehr
schwierig.
Im Aufgabengebiet
der Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß §
35a SGB VIII (z. B. Schulbegleitung, Lerntherapien, Tagesgruppen, Unterbringung
in Einrichtungen oder Wohnformen außerhalb des Elternhauses, intensive
sozialpädagogische Einzelbetreuung) ist es im Jahr 2022 zu einer deutlichen
Steigerung der Fallzahlen gekommen. Von ursprünglich auf der Basis der
Erfahrungen aus den Jahren 2020 und 2021 geplanten 20 Fällen ist die Fallzahl
in 2022 tatsächlich auf ca. 80 Fälle angestiegen.
Die ungewöhnlich
hohe Steigerung der Fallzahlen erklärt sich der Fachdienst wie folgt: Auf
psychische Störungen und Verhaltensstörungen mit Krankheitswert bei Kindern und
Jugendlichen werden oftmals zuerst Erzieher in Kindergärten, Lehrer in Schulen
und niedergelassene Kinderärzte aufmerksam. Sie suchen das Gespräch mit den
Eltern und empfehlen diesen die medizinische Abklärung und Antragstellung auf
Eingliederungshilfe. Die medizinische Abklärung und ärztliche Diagnosestellung
einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung oder Verhaltensstörung (z.
B. Depression, Autismus-Spektrum-Störung,
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Essstörung,
Borderline-Persönlichkeitsstörung, fetale Alkoholspektrum-Störung,
Suchterkrankung, kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen)
bei dem betroffenen Kind oder Jugendlichen durch einen Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie ist auch eine Voraussetzung für den Anspruch auf
Eingliederungshilfe. Diese am Prozess beteiligten pädagogischen und
medizinischen Berufsgruppen standen während der Corona-Lockdowns im Frühjahr
2020 und Winter 2020/2021 und der nachfolgenden Beschränkungen im Jahr 2021 nur
sehr eingeschränkt zur Verfügung. Es fehlten die erforderlichen und geeigneten
regelmäßigen persönlichen Kontakte mit dem Kind oder Jugendlichen, um eine
psychische Störung oder Verhaltensstörung bei ihm bemerken und beobachten zu
können. Erst im Kindergarten- und Schuljahr 2021/2022, welches nicht mehr von
generellen Einrichtungsschließungen betroffen war, war dies den
initiativgebenden Berufsgruppen wieder möglich. Ebenso ist registrierbar, dass
auch die Ärzte und Kinder- und Jugendpsychiatrien im Jahr 2022 ihre üblichen
Untersuchungsverfahren zur Diagnostik wieder aufgenommen haben. All dies
spiegelt sich in dem Anstieg der Fallzahlen wieder. Es ist dem Fachdienst aber
wichtig klarzustellen, dass ihm keine belastbaren Erkenntnisse vorliegen, dass
die Zahl von Kindern- und Jugendlichen mit seelischer Behinderung im Kreis
insgesamt steigt. Für 2022 wird von einem Nachholeffekt aus den Jahren 2020 und
2021 ausgegangen.
Feststellbar aus
fachlicher Sicht ist jedoch, dass Einzelfälle (gegenwärtig 7 Fälle) komplexer,
aufwendiger und schwieriger werden. Bei Kindern und Jugendlichen mit wiederholt
akut selbst- und/oder fremdgefährdenden Verhalten stoßen Eltern, Pädagogen und
Ärzte aufgrund der Intensität des Verhaltens zunehmend an ihre Grenzen. Für den
Fachdienst stellt es dann oftmals eine kaum lösbare Aufgabe dar, für diese
Kinder und Jugendliche eine geeignete Jugendhilfeeinrichtung zu finden. Selbst
bei deutschlandweiter Einrichtungssuche durch den Fachdienst sagen die
angefragten Einrichtungen oft wegen fehlenden Platzkapazitäten oder
Nichteignung der Einrichtung für den Hilfefall ab. Sofern in diesen
Einzelfällen nach aufwendiger Suche eine Einrichtung gefunden wird, besteht in
Anbetracht des akuten intensivpädagogischen Bedarfs kaum noch die Möglichkeit,
die Belegung der Einrichtung auch noch nach ihren Kostensätzen, welche diese
mit ihrem örtlichen Jugendamt vereinbart hat, auszuwählen. Von einer
Unterbringung in einer deutschen Einrichtung oder Wohnform im Ausland hat der
Fachdienst bislang mangels Geeignetheit der Einrichtungen bzw. Wohnformen und
aus Mangel an der erforderlichen medizinischen Behandlungsmöglichkeit
abgesehen.
Im Bereich der
stationären Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII kostet ein
Einrichtungsplatz gegenwärtig im Durchschnitt 190,00 EUR pro Tag. Dies
entspricht einem durchschnittlichen Kostensatz von 5.700,00 EUR pro Monat. In
sehr komplexen Einzelfällen mit vorausgehenden anderweitigen
Einrichtungsaufenthalten des Kindes oder Jugendlichen müssen zumindest zu
Beginn der Aufnahme in der Einrichtung auch Tagessätze bis zum doppelten
Durchschnittsbetrag in Kauf genommen und gezahlt werden. Sofern nach einer
gewissen Zeit im Hilfeplanverfahren eine Besserung festgestellt werden kann und
eine Reduzierung des individuellen Betreuungsaufwandes möglich ist, wird in der
Regel zum üblichen Tagessatz zurückgekehrt.
Im Aufgabengebiet der Eingliederungshilfe für
Kinder mit Behinderung oder drohender Behinderung in Regelkindergärten ist
ebenfalls der bereits oben beschriebene Corona-Nachholeffekt durch den Anstieg
der Fallzahlen zu verzeichnen.
Des Weiteren bestätigen die aktuellen
Corona-KiTa-Studien des Robert-Koch-Institutes und des Deutschen
Jugendinstitutes „… grundsätzlich gestiegene Förderbedarfe bei der
sprachlichen, motorischen und sozial-emotionalen Entwicklung.“ Diese
Einschätzung können die Fachberater für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf des
Fachdienstes aus den alltäglichen Hospitationen sowie Gesprächen mit den
Pädagogen in den Kindergärten bestätigen. Während der
Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen sind Kinder mit erhöhtem Förderbedarf durch die
gebildeten Kleingruppen weniger aufgefallen und konnten, wenn sie den
Kindergarten besuchten, durchaus individueller durch die Erzieher gefördert und
unterstützt werden. Nach Rückkehr aller Kinder in den Kindergarten fiel für die
bereits anwesenden Kinder der positiv wirkende Kleingruppencharakter mit
individuellerer Förderungsmöglichkeit weg. Des Weiteren zeigte sich nun bei den
Rückkehrkindern aus häuslicher Betreuung, wer von ihnen eine erhöhte Förderung
benötigte bzw. benötigt.
Hinzu kommt, dass die Leistungsvergütungssätze
je Kind in den letzten Jahren erheblich angestiegen sind. Die
Leistungsvergütungsvereinbarungen werden zwischen dem Kita-Träger und dem
Thüringer Landesverwaltungsamt geschlossen. Auf diese Vereinbarungen hat der
Fachdienst kaum Einfluss. Gegenwärtig zahlt der Fachdienst für ein Kind mit
erhöhtem Förderbedarf in einem Regelkindergarten im Durchschnitt 65,00 EUR pro
Tag, d. h. ca. 1.300,00 EUR pro Monat je Kind mit erhöhtem Förderbedarf.
Hinzutreten können noch Mehrbedarfe, z. B. 1:1 Betreuungen. Diese werden
entsprechend des konkreten Einzelfallbedarfes individuell berechnet.
Darüber hinaus stellten in den letzten Wochen
und Monaten vermehrt Familien auf Empfehlung verschiedener Fachärzte einen
Antrag auf Eingliederungshilfe. Die Fachärzte berufen sich auf ihre
Behandlungsleitlinien, in denen empfohlen wird, u.a. bei Frühchen bzw.
Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 g immer eine Frühförderung
wegen erhöhtem Förderbedarf zu initiieren, unabhängig davon, ob ein konkreter
Bedarf feststellbar ist oder nicht.
Beschlussvorschlag:
„Der Kreistag des
Saale-Orla-Kreises beschließt überplanmäßige Ausgaben
- in Höhe von 175.000,00 € auf der Haushaltsstelle 1.45600.77130 –
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche § 35a
SGB VIII und
- in Höhe von 145.000,00 € auf der Haushaltsstelle 1.48809.78903 –
Heilpädagogische Leistungen in Regelkindergärten.“
Personelle Auswirkungen:
keine